Es geht um Krebsdiäten und Vitaminkuren, Meerrettich und Thymian. Wer vermutet dahinter schon gestandene Ärzte? Am vergangenen Wochenende trafen sich rund einhundert Interessierte zu den Warnemünder Tagen der Komplementärmedizin. Gemeinsam lernten sie, ihre Schulmedizin durch Naturheilkunde zu ergänzen.
– Von Annika Riepe und Toni Altmann –
„Seien Sie der Fuchs in der Gruppe!“, fordert Diplom-Mediziner Ulrich Freitag die vor ihm versammelten Kollegen in seiner Eröffnungsrede auf. Was er damit meint: Sie sollen mehr wissen als andere Ärzte, die sich der Komplementärmedizin verschließen. Komplementärmedizin, das ist Naturheilkunde, die Schulmedizin durch ihren ganzheitlichen Ansatz ergänzt – nicht etwa ersetzt. Sie ist besonders geeignet, um die bei herkömmlichen Verfahren auftretenden Nebenwirkungen zu lindern. Das ist doppelt wichtig, denn viele Patienten mit schweren Erkrankungen brechen ihre Therapien aufgrund der Nebenwirkungen ab.
Ein anderer Aspekt wiegt noch schwerer: Tatsächlich vertraut ein Großteil aller Krebspatienten nebenher auf Naturheilkunde – Studien sprechen von 50 bis 80 Prozent. Aber: Viele von ihnen verschweigen dies ihren behandelnden Ärzten. Das stellt ein ernstes Problem dar, denn auch bewährte pflanzliche Medikamente und Lebensmittel können durch Wechselwirkungen schaden. So verringert Grapefruitsaft die Erfolgschancen einer Chemotherapie. Komplementärmedizin will vermitteln, indem sie Naturheilkunde salonfähig macht und sie in der klassischen Schulmedizin verankert. Es gilt, Patienten die Angst zu nehmen, Ärzte darauf anzusprechen. Und Ärzten die Angst vor Naturheilkunde.
Ursache für die Ablehnung von Naturheilverfahren sei das Medizinstudium, in dem diese meist keine Rolle spielten, erklärt Ulrich Freitag. „Akupunktur ist Paramedizin“, gab ihm gar ein Professor mit auf den Weg. „Damit ist der Zugang zur Naturheilkunde für Ärzte schwerer als für Patienten.“ Also ist Eigeninitiative gefragt. Die Pflicht des Arztes, sich weiterzubilden, zwingt schließlich niemanden ins „Praxisseminar Mistel“.
Um sich dafür zu entscheiden, müssen Schulmediziner zunächst die Vorteile erkennen und Vorurteile abbauen – wie jenes, das Naturheilkunde mit Esoterik gleichsetzt. Für Ulrich Freitag ist die Grenze dort auszumachen, wo die Wirkung von Präparat und Therapie nicht mehr messbar ist: „Komplementärmedizin benutzt überprüfbare und wiederholbare Verfahren“.
Im Jahr 2006 gründete der Wismarer zusammen mit der Grevesmühlener HNO-Ärztin Dr. Sylvia Schnitzer das Institut für Prävention und Gesundheitsförderung Mecklenburg-Vorpommern. Dessen Logo spricht für sich: Es kombiniert den Äskulapstab, das typische Symbol der Schulmedizin, mit einem Ginkgoblatt als Zeichen für die Pflanzenheilkunde. Seit sechs Jahren veranstalten beide die Warnemünder Tage der Komplementärmedizin als Treffpunkt für Mediziner aller Fachrichtungen.

Gynäkologe Ulrich Freitag und HNO-Ärztin Sylvia Schnitzer veranstalten die Warnemünder Tage der Komplementärmedizin. Foto: Annika Riepe
In diesem Jahr informierten Vortragende aus ganz Deutschland und der Schweiz ein Wochenende lang unter anderem über Allergien und Darmgesundheit. Was man hier im Technologiepark Warnemünde lerne, ließe sich schon am nächsten Tag anwenden, verspricht Freitag. Man müsse Mediziner dort abholen, wo sie stehen. Daher referieren neben einer Biochemikerin ausschließlich approbierte Ärzte. Entsprechend aufmerksam zeigt sich die bunt gemischte Zuhörerschaft. Am Ende eines jeden Vortrags klopft sie Beifall, wie an der Uni gelernt.
Ebenso wichtig wie die Vorträge sind den Initiatoren die Pausen: In diesen sollen die Teilnehmer Netzwerke knüpfen und sich zum Thema austauschen. Ziel ist es neben der eigenen Weiterbildung, Patienten an wohnortnahe Kollegen mit anderer Expertise verweisen zu können. Bislang ist das oft unmöglich, da regionale Angebote fehlen und die Patienten gezwungen sind, in weit entfernte Städte auszuweichen. Ulrich Freitag macht klar: „Es ist nun einmal so, dass jemand, der Naturheilkunde anbietet, eine fundierte Ausbildung haben muss. Die ist nicht während eines Wochenendkurses auf Mallorca zu machen.“ So sind die Ziele langfristige und die Warnemünder Tage setzen jedes Jahr neue Schwerpunkte.
Das Konzept kommt an, die Teilnehmerzahlen steigen. Inzwischen hat sich das Event etabliert. Der Grund dafür liegt auf der Hand, glaubt man Sylvia Schnitzer. Immer mehr Kollegen würden erkennen: „Schulmedizin allein reicht nicht.“ Trotzdem ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten – bei Krankenkassen wie Doktoren. Schon die in komplementärmedizinischen Behandlungen üblichen Gespräche brauchen Zeit, die selten vorhanden ist. „Schnell, schnell wie in der Kassenmedizin“ jedoch gehe es nicht, so Freitag.
Auch Selbstkritik übt er: „Warum kommen wir mit der Komplementärmedizin immer zu spät? Weil wir warten, bis die Nebenwirkungen da sind.“ Viel sinnvoller wäre es, schon mit Beginn der Primärtherapie einzusetzen. Ein simples Beispiel für diesen Ansatz gibt Dr. Peter Holzhauer vom Onkologischen Kompetenzzentrum im bayerischen Oberaudorf: Hanföl schützt hervorragend vor dem schmerzhaften Hand-Fuß-Syndrom, mit dem jeder zweite Chemotherapie-Patient zu kämpfen hat. Sich für derlei Mittel zu öffnen, sei so schwer nicht, fügt er schmunzelnd an. Sogar TV-Serienarzt Dr. House habe sie letztlich für sich entdeckt.
Der große Anteil an Referenten aus dem Süden fällt auf, ist für Dr. Erwin Häringer, der selbst in München praktiziert, aber nicht verwunderlich. Traditionell sei die Verbundenheit zu Pflanzen und deren heilender Wirkung in Alpennähe ausgeprägter. Das Sammeln von Kräutern gehöre zum Volkscharakter der Bayern – während im Norden naturgemäß das Meer eine größere Rolle spielt. Doch Mecklenburg-Vorpommern hängt nicht nur deshalb in Sachen Komplementärmedizin hinterher. Münchner Kliniken, konstatiert der Allgemeinmediziner, machten schlicht bessere PR. Auch deshalb fliegen viele Patienten aus dem In- und Ausland zur Therapie nach Süddeutschland. Das bringt Geld und wiederum die Möglichkeit, in neue Angebote und Werbung zu investieren.

Der Technologiepark Warnemünde bietet seit Jahren den passenden Schauplatz für die Tagung. Foto: Annika Riepe
Dabei sei das hiesige Klinikum keineswegs schlechter. Schon durch die günstige Lage könnte sich Häringer Rostock als Zentrum für Komplementärmedizin vorstellen. Der in Küstennähe wachsende Sanddorn sei nicht nur Vitamin-C-Lieferant, sondern überdies ein Hautpflegemittel und hilfreich bei der Chemotherapie.
Immerhin: Seit 2002 gibt es an der Uni Rostock einen Lehrstuhl für Naturheilkunde. An der weiteren Entwicklung Mecklenburg-Vorpommerns arbeiten Mediziner wie Sylvia Schnitzer und Ulrich Freitag. Beide wissen, der Weg ist ein langer. Inzwischen aber gehen sie ihn nicht mehr allein und das macht bekanntlich Mut. Schon steht der Termin fürs kommende Jahr: Vom 17. bis zum 19. April 2015 wird es dann um komplementäre Schmerztherapie gehen.