– Eine Buchkritik von Manuela Heberer –
Es ist mir noch nie passiert, dass ich ein Buch angelesen habe und schon nach der ersten Seite am liebsten wieder weggelegt hätte. Klar, ich erinnere mich an zwei Bücher, die ich nicht zu Ende gelesen habe, weil ich mit der Schreibart des Autors nicht klar kam. Aber das bezog sich dann auf die Form des Schreibens, nicht auf den Inhalt. Manchmal halte ich auch einfach nur bis zum Schluss durch, in der Hoffnung, es werde noch besser oder anders. Aber nie war es so wie bei diesem Buch: Schon nach 28 Zeilen habe ich ernsthaft überlegt, ob ich noch weiterlesen will.
Und das, obwohl ich mich sehr auf das Buch „Niemand ist bei den Kälbern“ von Alina Herbing gefreut habe. Besonders, weil die Handlung in Nordwestmecklenburg spielt, dort, wo auch ich lebe, aufgewachsen bin. Ich war gespannt darauf zu lesen, wie das Landleben wirklich ist. So jedenfalls stand es in der Verlagsankündigung. Nach 28 Zeilen habe ich dank Alina Herbing ein Bild davon vor Augen, wie ein Rehkitz vom Mähdrescher in winzige Fetzen gehäckselt wird. Eigentlich Alltag auf dem Land – nicht für mich zwar, aber dennoch – und auch gar nicht übermäßig grausig dargestellt. Im Gegenteil: Klar, direkt, aber auch gleichgültig. Genau diese Gleichgültigkeit hat mich schockiert. Noch immer widern mich Passagen extrem an. Zum Beispiel als Christin, die Hauptperson, einem neugeborenen schwachen Kälbchen auf der Weide beiläufig Nase und Mund mit einer Hand zudrückt:
„Die Beine hören auf zu zittern, das Kälbchen liegt ganz still da, der Bauch bewegt sich nicht mehr. Vorsichtig nehme ich die Finger von der Nase. Ich höre nur irgendwo ganz weit weg einen Mähdrescher. Bullenkälber werden sowieso geschlachtet. Auf einmal macht mich das wahnsinnig traurig.“
Eine der wenigen offenkundigen Gefühlsregungen, Ansätzen von emphatischem Empfinden, von denen zu lesen ist, ganz leise, ganz kurz. Denn schon einen Augenblick später pflückt Christin sich ein paar Kirschen vom Baum, die sie aber gleich wegen einer herauskriechenden weißen Made angeekelt wegwirft.
Es gibt mindestens zwanzig Situationen in diesem Buch, die ich mir als besonders extrem, besonders brutal oder besonders widerlich notiert habe. Automatisch habe ich mir die Frage nach dem Warum gestellt. Warum geht Christin denn nicht weg, wenn sie unbedingt raus will aus diesem bisherigen Leben? Warum lässt sie sich so quälen und quält selber so sehr? Warum sind hier so wenige offenkundige Gefühle im Spiel? Und warum, um Himmels Willen, spielt diese Handlung ausgerechnet in Nordwestmecklenburg? Eine vergessene Region zwischen Nord und West? Eine Jugend ohne Zukunft? Verstehe ich nicht! Ich weiß, es ist eine Geschichte. Ich weiß, künstlerische Freiheit und so. Aber warum ausgerechnet sowas hier? In einem Landesteil von Mecklenburg-Vorpommern, der nun wirklich nicht arm dran oder abgehängt ist. Der durch seine Nähe zu Lübeck und Hamburg deutlich profitiert – im Vergleich zu anderen Ecken, weiter östlich. Ein Landstrich, in dem einem Häuser und Grundstücke schon lange nicht mehr hinterhergeworfen werden. Der vom Tourismus an Ostseeküste und Schaalseeregion profitiert, in dem viele tolle Menschen, spannende, innovative und kreative Projekte auf die Beine stellen.
Ich sage mir, das hat eigentlich gar nichts mit Nordwestmecklenburg an sich zu tun. Sollte ich Alina Herbing irgendwann einmal persönlich treffen, würde ich sie danach auf jeden Fall fragen. Nachdem ich allerdings lange über das Buch nachgedacht habe, wuchs in mir eher ein Gefühl von Mitleid. Mitleid für Christin, die immer so stark, kühl, abgebrüht scheint. Ist das wirklich ihr Innerstes? Ich sehe einen jungen Menschen, dem alle Möglichkeiten offenstehen, der sie aber nicht nutzt. Dabei zwingt sie niemand zu dem, was sie tut oder eben nicht. Gut, das familiäre Umfeld ist schwierig. Der Vater ständig besoffen, die Mutter weg, die Beziehung zum Freund eingefahren, alles andere als liebevoll. Ziemlich viele Extreme. Irgendwo steht noch was von Nazi-Hochburg. Eine Rolle spielt es in der Handlung jedoch nicht. Einzig Christin, ihre Unzufriedenheit, ihre Leere, prägt die Geschichte. Aber auch ihre Trägheit, ihr Verharren, ist immer da. Ein Mensch, der unglücklich ist. Aber auch untätig. Will sie wirklich raus aus diesem Leben? Etwas ändern? Die Möglichkeiten dazu hätte sie. Egal wo – auch oder gerade in Nordwestmecklenburg.
Niemand ist bei den Kälbern, Alina Herbing, Arche-Verlag, Zürich, 2017, ISBN: 9783716027622
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